Kolumnen April 2015 - April 2017
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    Balduin Brachlands Hausapotheke (2010) - Auszüge


    Wer Kuchen hat, hat auch Likör



    Heute würde ich gerne einmal etwas Positives über die Menschen sagen, obwohl sie das ganz und gar nicht verdient haben. Völlig grundlos mich einfach mal lobend äußern über gewisse menschliche Eigenheiten. Etwas Nettes über die Streitsucht, den Neid und die grenzenlose Dummheit der Menschen sagen. Behaupten, dass man sie lieben muss, diese Menschen, trotzdem sie eitel, gierig und abgrundtief hässlich sind. Dass es nichts Schöneres geben kann, als mitten unter ihnen zu leben, unter diesen Kleinkrämern, Duckmäusern und Feiglingen, einer der ihren zu sein. So etwas würde ich gerne sagen. Leider fällt mir, was damit nicht das Geringste zu tun hat, im Augenblick nur ein, dass ich mich heute Morgen beim Erwachen so fühlte, wie eine abgeblühte Alpenwiese unter stahlblauem Himmel, über die eben eine lärmende zwanzigköpfige Schulklasse mit zwanzig Paar hellbraunen Wildlederschuhen und 38 1/2 quietschgelben Socken getrampelt ist, die sich verirrt haben und leider in den nächsten Tagen alle hungers sterben müssen. Dabei hatte ich gerade noch von einem riesigen Spanferkel geträumt, das sich wohlig an seinem Spieß räkelte und "Am Brunnen vor dem Tore" pfiff. Haben Sie sowas auch manchmal? Es soll ja auch Leute geben, die fühlen sich im Kino genötigt, jedes Mal, wenn ein Pferd auf der Leinwand erscheint, nach einem Arzt zu rufen. Andere können schlichtweg nicht einmal die Straße hinuntergehen, ohne sich beständig im Genick zu kratzen. Wieder andere wagen sich vor lauter Ärger schon seit Jahren nicht mehr nach Hause. Sie kennen das sicherlich. Sind Sie nicht auch bisweilen betroffen und enttäuscht von der Realität, wie von einem billigen und einfallslosen Weihnachtsgeschenk, mit großer Geste von jemandem überreicht, von dem Sie eigentlich annahmen, dass derjenige Sie mag? Ärgert Sie auch manchmal die überwältigende Abwesenheit jeglicher dramaturgischer Raffinesse in der Inszenierung Ihres Lebens? Sollten sich hier nicht tollkühne Heldengeschichten und herzerwärmende Liebesromane zutragen? Finden Sie nicht auch von Zeit zu Zeit, dass die Regie hier auf ganzer Linie versagt hat? Hatten Sie schon mal die Idee, Ihre Möbel könnten Sie nicht mögen, und jedes Mal, wenn Sie das Haus verlassen, beginne hinter Ihrem Rücken ein großes Getuschel und Gerede, wenn Ihre gesamte Wohnungseinrichtung sich das Maul über Sie zerfetzt, über Ihre Person, Ihre Bekanntschaften und Gewohnheiten lästert, Hasstiraden singt und Mordpläne schmiedet? Haben Sie manchmal das Gefühl, Sie müssten Ihr Leben ändern? Ihre Wohnung aufräumen, einigen Leuten die Meinung sagen und netter zu Katzen sein? Den Müll sorgfältiger trennen und sich bei der Supermarktkassiererin für Ihre andauernde Unfreundlichkeit entschuldigen, ihr nach dem nächsten Einkauf die Hand reichen und fragen, wie es ihrer Familie geht? Waren Sie schon soweit zu beschließen, den Nächsten, der Sie demütigt und beleidigt, Ihren Chef, Ihren Geliebten, den Fahrkartenkontrolleur in der U-Bahn, Ihren Sachbearbeiter beim Arbeitsamt oder einfach den Folgenden, der an Ihrer Tür klingelt und Ihren Fernseher anmelden, Ihren Telefonanschluss verbessern oder Ihre Seele retten will, ganz umstandslos und ohne jede Vorwarnung zusammenzuschlagen? Dann ließ dieser Nächste aber, ganz gegen jede Gewohnheit, länger auf sich warten, und als er dann endlich doch auftauchte, hatten Sie das Ganze schon wieder vergessen? Wollten Sie nicht schon lange mal etwas Ungewöhnliches, ganz und gar Bizarres tun: zur Beichte gehen, eine Bank ausrauben oder als Präsident eines Taubenzüchtervereins kandidieren? Überfällt Sie hin und wieder das dringende Bedürfnis, auf offener Straße stehenzubleiben, inmitten bunter Menschenmassen, und laut loszuschreien, so laut es eben geht, dann kurz Ihre Kleidung wieder zurechtzurücken und weiterzugehen, als sei nichts gewesen? Können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie zum letzten Mal vor lauter Glück den Verstand verloren haben und was der Anlass dazu war? Träumen Sie manchmal davon, diesen Planeten zu verlassen und in einem anderen Universum ganz von vorne anzufangen? Hat Ihnen vielleicht ein Außerirdischer, der vor wenigen Wochen unvermittelt an Ihre Türe klopfte, berechtigte Hoffnungen gemacht, er könne Sie dahin mitnehmen? Haben Sie heute schon jemandem ein Kompliment gemacht und meinten Sie das ehrlich? Fühlen Sie sich am Abend eines Tages zuweilen so, als habe dieser Tag noch gar nicht stattgefunden? Beunruhigt Sie das? Mögen Sie Kuchen, Spanferkel, Schulkinder, deutsche Volkslieder, Tauben? Geht es Ihnen unter Umständen auf den Geist, wenn Ihnen jemand ungebeten komische Fragen stellt, die Antwort aber gar nicht hören will? Würden Sie sich statt dessen lieber etwas wünschen dürfen? Ein Pony, ein Kettenkarussell oder den Weltfrieden? Oder dass die Schulklasse unbeschadet den Weg nach Hause findet, erschöpft aber glücklich am Küchentisch sitzt und Kuchen mampft? Oder auch, dass endlich mal jemand etwas Positives über die Menschen sagt? Okay, wenn Sie unbedingt wollen: Die Menschen, inklusive der Fahrkartenkontrolleure, Taubenzüchter und Bankräuber, sind im Grunde ganz in Ordnung. Und wenn es einen im Genick juckt, muss man sich eben kratzen. Oder wie es in einem alten deutschen Volkslied so schön heißt: "Wer Kuchen hat, hat auch Likör!"


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