Kolumnen April 2015 - April 2017
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    Die Luftschiffer


    Leseprobe aus dem 3. Kapitel (Arbeitsfassung - Dezember 2017)



    Wie ein Meer aus Kristall lag Austropolis mit geheimnisvollem Funkeln im sanften Morgenlicht der rosa Sonne. Perle des Nordens, Glanz von Kandhir, Stolz der Galanten Inseln. Auf einem kantigen Felsen, hoch über den Bürgerhäusern der in einem perfekten Kreis angelegten Stadtmitte, glänzten die kupferbeschlagenen Türme des marmornen Königspalastes, dessen große Freitreppe und Vorplatz sich zu schroff abfallenden Klippen über dem Bodenlosen Ozean öffneten. Wie ein düsteres Spiegelbild aus schwarzen, grob behauenen Steinblöcken erhob sich gegenüber, auf der anderen Seite der Stadt, dort, wo das Tal sich den Höhen des Samtgebirges entgegenstreckte, der dunkle Ring des Priesterbezirks, dessen von hohen Mauern umgebene Gebäude eher einer wehrhaften Festung glichen, als einem geistlichen Refugium. Die am Seilschiffhafen gelegene Unterstadt war von Wirtschaftsgebäuden und einfachen Holzhäusern geprägt, wo der nicht ganz so wohlhabende Teil der Bevölkerung lebte und mit den schwankenden Gezeiten des Ozeans, den regelmäßigen Nebeleinbrüchen, den launischen Winden und gelegentlichen Invasionen lästiger, oft auch gefährlicher Meeresbewohner auf vertrautem Fuß stand. Wer etwas auf sich hielt und über das nötige Kleingeld verfügte, logierte standesgemäß in den herausgeputzten Häusern, Villen und kleinen Schlösschen der Oberstadt.
    In deren genauem Kreismittelpunkt, im Zentrum des großzügig angelegten Fest- und Hauptplatzes stand, von jedem Winkel der Stadt ganz unübersehbar, das hoch aufragende Denkmal des Unbekannten Postrevolutionärs, direkt vor Augen der am Rande des Platzes im Halbkreis angesiedelten Obersten Postbehörde, der unbestrittenen Macht- und Entscheidungszentrale Kandhirs und des gesamten Galanten Reiches. Auch dieser Bau tat sich nicht durch grundlose Bescheidenheit hervor und verfehlte mit seinen zahlreichen verspielten Türmchen, ausladenden Erkern, hohen Spitzbogenfenstern, gewundenen Säulen und mächtigen stilisierten Ssobhrunenskulpturen selten einen unvergesslichen Eindruck bei unbefangenen Besuchern, verbunden mit dem unabweisbaren Gefühl eigener Kleinheit und Unbedeutendheit. Hier war auch der Sitz des Oberpostgeneraldirektors, der verschiedenen Postministerien, Postverwaltungen, Postgerichte, Postdienste und - natürlich wusste man das nicht so genau - Postgeheimdienste, Postaufsichts-, Postantrags- sowie Postablehnungsstellen. Ein wohlorganisierter Bienenstock, in dem es von fleißig umhereilenden Postangestellten nur so summte, die pflichtbewusst und unermüdlich ihren unaufschiebbaren und höchst wichtigen Aufgaben nachgingen. Das zumindest erzählten die Fremdenführer den sich auf dem Zentralplatz drängenden, mit offenen Mündern nach oben und mit ebenso großen Augen um sich schauenden Touristengruppen, und wir haben derzeit auch nicht den geringsten Anlass, an dieser Darstellung zu zweifeln.
    Heute allerdings summte und brummte hier gar nichts. Stattdessen herrschte auf den ellenlangen Fluren und in den dämmrigen Amtsstuben eine gespenstische Stille. Einhellig hatten die emsigen Postbeamten ihre schmucklosen Büros bereits vor dem ersten Sonnenaufgang wieder verlassen und sich geschlossen auf den Heimweg begeben, auch der Platz lag schon leer und auffallend sauber im rosa Frühmorgenlicht, ringsherum weiträumig abgesperrt, nur ein halbes Dutzend Waldschweblinge flatterte aufgeregt fiepend von einem Ende zum anderen und ein verirrtes Simyak verharrte einsam vor dem Denkmalsturm, gluckste leise und starrte auf den Koloss vor ihm. Der Turm thronte, davon unbeeindruckt, über dem Platz und überragte selbst die hoch aufstrebende Postzentrale um wenigstens das Doppelte. Auf dem gewaltigen fünfeckigen Sockel erhob sich eine steinerne Gestalt in Postuniform, deren unbeholfene Boxerhaltung und deren überaus grimmiger Gesichtsausdruck Gegenstand von zahllosen, natürlich nur im Flüsterton weitergegebenen Witzen waren. Gewidmet war es dem Unbekannten Postrevolutionär, also einer Art Gründervater und Gewährsmann der jetzigen staatlichen Ordnung, über den Scherze in Umlauf zu bringen, einen ziemlich rasch in längerdauernden Genuss des Königlichen Kerkers bringen konnte.
    Um ihren Machtanspruch zu demonstrieren und zugleich die Vertreter und Anhänger der früheren Ordnung dauerhaft zu demütigen, waren die Reste eines alten Tempels, der sich in der genauen Mitte der Stadt im Zentrum des Platzes befunden hatte, mit dem Denkmalsturm überbaut worden. Von der ursprünglichen Kultstätte war nur noch die sogenannte Opferhöhle in den Kellergewölben über eine schmale Treppe auf der Rückseite des Denkmals zugänglich. Die schwere, beschlagene Tür zu diesem Eingang wurde genau einmal im Jahr zur großen Prozession geöffnet und auch nur die drei Allerhöchsten Priester durften dann diesen Ort betreten, um das Wunder des Königsfestes zu wirken.
    Von der Besucherplattform des Denkmals, die sich im linken Oberarm der Figur befand und die an normalen Tagen ein beliebter Aussichtspunkt war, von dem aus man einen phantastischen Blick über die Stadt genießen konnte, hätten die staunenden Gäste der Hauptstadt jetzt über den schneeweißen Schlossklippen, drüben am Ufer des Bodenlosen Ozeans, einen seltsamen Vogel beobachten können, der auffallend unenentschlossen in der Luft hin und her zu hüpfen schien, als könne er sich nicht zwischen Palastwache und Simyak als Beute oder Freitreppe und Schlossturmspitze als Landeplatz entscheiden. Außerdem wäre ihnen vielleicht aufgefallen, dass dieser neckische Geselle für einen Vogel bei Weitem zu groß war. Aber auch der Aussichtspunkt im Arm des steinernen Helden war heute verwaist und nur ein einsamer Wachmann hockte auf seinem Klappstuhl, der Besseres zu tun hatte, als sich die langweilige Stadt anzusehen, auf die er schon sein ganzes Berufsleben tagein tagaus hinabschauen musste. So bemerkte er auch nicht, wie Vrohb, denn um diesen handelte es sich, in seinem Luftschiff näher kam und zum Greifen nahe an der Heldenschulter vorbeisegelte. Noch mehr hätte er sich allerdings gewundert, wenn er festgestellt hätte, dass dieser nur wenige Augenblicke später ohne jede Spur vom Himmel verschwunden war, als sei er nur eine Luftspiegelung gewesen. Den Seilschiffhafen hingegen hätte der Wachmann, falls ihn danach verlangt hätte, auch bei äußerster Anstrengung seiner in die Jahre gekommenen Augen von hier oben nur sehr, sehr undeutlich in der Ferne ausmachen können. Aber auch an dem hatte er keinerlei Interesse.

    Am Seilschiffsteg in der Unterstadt steht eine Handvoll Leute in Erwartung des Linienseilschiffes, teils Reisende in gespannter Vorfreude, teils Hafenarbeiter, die für das Löschen der Fracht zuständig sind, teils Verwandte der avisierten Passagiere, teils einfach Schaulustige, die sich am Anlegemanöver eines solchen Gefährts nicht sattsehen können oder schlicht am frühen Morgen nichts Besseres zu tun haben. Das Schiff, welches hier alle erwarten, kommt wieder einmal verspätet, sofern man bei einem Fahrplan, dessen präziseste Angaben "morgens" und "abends" lauten, davon überhaupt sprechen kann.
    Da, ein plötzliches Knirschen und Beben, alle Herumsitzenden erheben sich und schauen mit gespannter Erwartung entlang der in den Nebel führenden Halteseile auf den Ozean hinaus. Doch so sehr sie auch in diese Richtung starren, dort draußen tut sich rein gar nichts. Dafür beginnt der Boden unter ihnen zu vibrieren und ein feines Sirren liegt in der Luft, wie durch den Wind herbeigetragen von einer fernen Kreiseldampfsäge. Das Sirren wird lauter und die Empfindlicheren beginnen sich bereits die Ohren zuzuhalten. Andere sind geistesgegenwärtig genug, lassen alles Gepäck und Werkzeug und mitgebrachten Streuselkuchen zurück und beeilen sich, vom Ufer wegzukommen. Nur Augenblicke später geht ein heftiger Ruck durch den Grund, begleitet von tieftönendem Dröhnen, und der ganze Platz scheint sich hin zum Bodenlosen Ozean zu neigen. Kreischend und fluchend purzeln alle durch- und übereinander. Der Nebel schwappt mit einer großen Welle über das Ufer und im Nu sind alle Näherstehenden bzw. -liegenden eingehüllt bis über die Ohren. Einige beginnen sofort zu verzweifeln, jammern laut über ihr verfehltes Leben, die Ungerechtigkeit der Götter und das Aussehen ihrer Kinder und können von anderen gerade noch weggezogen werden. Nach kurzem Tumult sind aber alle bereits gerettet und man sammelt sich an höhergelegener Stelle und kümmert sich um kleinere Blessuren wie ausgeraufte Haare, verheulte Gesichter und blutiggeschlagene Knie. Merkwürdigerweise scheint sich, abgesehen von einem kurzen Erschrecken, keiner der Leute weiter über dieses Geschehen zu beunruhigen. Nachdem der Staub von den Kleidern geschüttelt ist, die Tränen getrocknet sind und einige Dutzend Flicken auf beschädigte Knie verteilt wurden, starren wieder alle einträchtig auf den Ozean hinaus in Erwartung des Linienseilschiffes, das nun aber wirklich bald kommen müsste.
    Die Seile, die auf das Nebelmeer hinausführen, hängen jetzt durch, offenbar hat sich die ganze Insel tatsächlich zum Ozean hin geneigt, während ein Hafenarbeiter sich an den mächtigen Haltepylonen zu schaffen macht, in denen die Tragseile verankert sind. Ein kurzes Klicken und Surren wie vom Uhrwerk einer Turmuhr und die Seile setzen sich, zur Erleichterung aller in Bewegung und werden offenbar von einem im Inneren verborgenen Mechanismus eingerollt, straffgezogen und den neuen geographischen Verhältnissen angepasst. Vereinzelt klatschen Zuschauer in die Hände, sogar einige Ahs und Ohs sind zu vernehmen, die aber sofort wieder verstummen, denn eben jetzt schält sich eine dunkle Silhouette aus dem weißen Dampf, die unbezweifelbar an den Halteseilen hängt, aber mit der ästhetischen Rundung einer Seilschiffkugel, wie sie alle in Erinnerung haben, so gar keine Ähnlichkeit aufweist. Was da mit ächzendem Quietschen und kratzendem Knirschen vor der Hafentreppe, jetzt halb ins Nebelmeer getaucht, zum Stehen kommt, ähnelt mehr dem löchrigen Backenzahn einer Riesenwalente als der Perle kandhirscher Ingenieurskunst und dem Flaggschiff des Zwischeninselpostverkehrsministeriums. Den nunmehr wirklich entsetzten Augen der Wartenden zeigen sich nur die qualmenden, kümmerlichen Überreste eines ehemals stolzen Schiffes. Eigentlich ist es wohl kaum noch ein halbes Seilschiff, wenn man das, was da eingetroffen ist, noch so nennen kann. Einige wenige verkohlte Bretter hängen traurig an den Überbleibseln eines löchrigen Gerüstes, die ganze obere Hälfte scheint von einer unheimlichen Kraft weggerissen worden zu sein, offene Kajüten, deren Einrichtung zwischen abgenagten Wänden herumfliegt, aufgeplatzte Rohre, lose flatternde Drahtseile, dazwischen Zahnräder, Kolbenstangen und zerbrochenes Geschirr. An der Stirnseite ein halber Propeller, der quietschend und wie mit letzter Kraft zum Stehen kommt, kurz im Wind schaukelt und dann abfällt und in den Bodenlosen Ozean stürzt. Von Passagieren und Mannschaft keine Spur. Nicht das geringste Lebenszeichen. Was immer diesem Schiff passiert war, konnte das irgendjemand überlebt haben? Einige der Umherstehenden brachen schon wieder in Tränen aus, obwohl sie inzwischen weit genug vom Nebel entfernt waren.


    *******************

    "Wo ist es denn jetzt hin, dieses vorwitzige kleine Mädchen? Schließlich habe ich sie gerade vor einem sicheren Ende als Ssobhrunenfutter gerettet. Ein wenig Dankbarkeit wäre da nicht ganz unangemessen, scheint mir."
    Blagrad, die nach ihrer aufmunternden Ansprache an die vom Lärm aufgeschreckten Mitreisenden in ihre Kabine zurückgekehrt ist und gewartet hat, bis sich die Geräusche im Gang allmählich wieder beruhigt haben, will eben vorsichtig ihre Tür erneut öffnen und sich ganz leise auf die Suche nach der Blinden Passagierin machen, da hört sie hinter sich ein heftiges Rascheln, unterbrochen von einem lauten Niesen, gefolgt von einem dumpfen Poltern. Schnell dreht sie sich um und sieht eben noch ein zerrissenes Kleiderbündel mit wuscheligen grünen Haaren aus der Seemannskiste rollen, die, neben einer harten Holzliege, das einzige Möbelstück ihrer Kajüte darstellt. Soviel sie weiß, ist dort nur ein Notfallsegelschirm gelagert, vorgeschrieben in allen Kabinen der Offiziersklasse laut Postverordnung QXDelta22, der, weil er keinen denkbaren Nutzen hat, denn wohin soll man mitten im Nebelmeer schon segeln?, traditionell von einer dicken Staubschicht umhüllt ist. In der kurzen Geschichte der Seilschifffahrt hatte es bislang auch keine erwähnenswerten Notfälle gegeben, so dass über diese Vorschrift noch niemand eingehender nachgedacht hatte.
    "Guten Morgen, junge Dame. Ist Ihnen Ihr Versteck zu unbequem? Wir hätten auch noch Plätze mit mehr frischer Luft und besserer Aussicht oben auf dem Deck. Nur vor dem Ungeziefer sollte man sich in Acht nehmen. Das kann manchmal ganz schön lästig sein."
    Das schmutzige Kleiderbündel hockte in der Ecke, strich sich die grünen Fransen aus der Stirn und schaute sie betreten an. Dann bildete sich in einem ihrer roten Augen eine Träne und tropfte auf ihren nackten Fuß.
    "Ist ja gut, ich habe doch nur Spaß gemacht.", versuchte Blagrad zu beschwichtigen, "Das war ja ganz schön mutig von dir, dich auf dem Dach eines Seilschiffes zu verstecken und dich dann noch mit einer ausgewachsenen Ssobhrune anzulegen. Wie bist du überhaupt an Bord gekommen? Und wieso versteckst du dich vor mir? Ich werde dir schon nichts tun, oder was meinst du? Ich glaube, das habe ich auch schon ein bisschen unter Beweis gestellt. Es sei denn, du denkst, ich hätte dich bloß vor der Ssobhrune gerettet, um dich jetzt selbst fressen zu können." Blagrad zeigte ihre Zähne und fauchte leise.
    Wohlruhnb musste lachen und wischte sich verstohlen die Augen. Diese große, schwarzhaarige Frau in der schicken Uniform war ihr vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Und nicht nur, weil sie ihr gerade das Leben gerettet hatte.
    "Entschuldige bitte, ich ... ich wollte mich nicht vor dir verstecken. Ist nur so eine Angewohnheit. Außerdem hättest du ja Ärger bekommen können meinetwegen. Und das ..., das wäre mir ausgesprochen unangenehm."
    "Soso." Jetzt musste Blagrad lachen. "Das ist ja sehr rücksichtsvoll von dir. Und nichts, versteh' mich nicht falsch, was man auf den ersten Blick erwarten würde. Du bist, naja, eben ganz schön zerzaust, und deine Sachen haben wohl auch schon bessere Zeiten erlebt. Und zu allem Überfluss hast du anscheinend noch deinen Schuh verloren. Bist du von zu Hause weggelaufen?"
    "Naja ..." Wohlruhnb hatte zwar ein gewisses Zutrauen zu der schönen Fremden gefasst, trotzdem war es ihr unangenehm zuzugeben, dass sie eigentlich überhaupt kein Zuhause hatte.
    "Ich bin ... auf dem Heimweg. Mein Onkel in Austropolis erwartet mich. Nur die Fahrkarte, die er schicken wollte, die muss mich irgendwie verfehlt haben. Und da habe ich gedacht ..."
    "Und was macht dein Onkel in der Hauptstadt?" Blagrad war noch nicht überzeugt, dass die Kleine sie nicht einfach anflunkerte. Sie sah aus, als sei das bei ihr eine wohlerprobte Überlebensstrategie.
    "Er ist ... Streuselkuchenbäcker. Und macht einen wirklich phantastischen Kuchen. Den musst du unbedingt probieren, wenn wir angekommen sind. Da können alle Bäcker von Kandhir nur neidisch mit den Augen rollen." Wohlruhnb wusste, dass man für eine gute Lüge am Besten möglichst nahe an der Wahrheit blieb. Und dass sie zu einem Streuselkuchenbäcker in Austropolis wollte, war zumindest nicht ganz falsch.
    "Na gut." Das klang einleuchtend. Die Streuselkuchenbäcker in Austropolis waren wirklich eine Legende. "Trotzdem war es sehr mutig und auch sehr unvernünftig von dir, dich heimlich auf ein Seilschiff zu schleichen. Das hätte ganz schnell schief gehen können. Du weißt ja gar nicht, was es da draußen auf dem Bodenlosen Ozean für Gefahren gibt. Ich könnte dir allein zwei Dutzend Tiere nennen, denen ich selbst schon begegnet bin und die ich wirklich nicht wiedersehen möchte. Von den unbekannten zu schweigen."
    "Und die hast du alle vom Seilschiff aus beobachtet?" Wohlruhnb war froh, dass sich das Thema so einfach von ihrer Person weg zu anderen Dingen lenken ließ.
    "Nein, gewöhnlich sitze ich nicht auf dem Deck eines fahrenden Seilschiffes, so wie gewisse andere Leute ..." Sie versuchte, Wohlruhnb streng anzusehen. "Das wäre viel zu gefährlich." Auch das war nur die halbe Wahrheit, denn in Wirklichkeit tat Blagrad das, seit sie nicht mehr fliegen durfte, ganz gerne, obwohl es natürlich strengstens verboten war. Dort oben im Fahrtwind zu stehen, wenn auch nur auf dieser behäbig dahinzuckelnden Holzkugel, und auf das ausgedehnte Nebelmeer zu schauen, fühlte sich mit ein bisschen Einbildungskraft fast so an wie in den alten Zeiten, als sie noch frei und schnell und übermütig wie die wechselnden Ozeanwinde über die endlosen Weiten geglitten war. Aber sie wollte nicht auch noch ein schlechtes Vorbild für die Kleine sein, für die sie, keine Ahnung, wo das plötzlich herkam, auf einmal so etwas wie elterliche Verantwortung empfand.
    "Vor meinem Leben als Ssobhrunenbeauftragte für Streuselkuchennichten war ich eine Luftschifferin. Und da bekommt man vom Bodenlosen Ozean mehr mit als in den Schauergeschichten der Großmütter erwähnt wird."
    "Wirklich?" Wohlruhnb war sichtlich beeindruckt. "Eine echte Luftschifferin? Wie in den Romanen?"
    "Jetzt sag bloß, du liest auch noch, und dann ... ausgerechnet Luftschifferromane? Das ... naja ... ", Blagrad versuchte sich höflich auszudrücken, "hätte ich wirklich nicht gedacht." Sie hatte ja keine Vorurteile, aber dieses abgerissene Räubermädchen und Bücher ... Es fiel ihr ehrlich gesagt schwer, das gemeinsam in einer Vorstellung unterzubringen.
    "Ja, ich weiß", Wohlruhnb machte sich wirklich keine Illusionen über ihr äußeres Erscheinungsbild, "das sieht man mir nicht an. Aber ich habe mal einige Jahre im Keller einer Bücherfarm ... mhh ... also neben einer Bücherfarm gewohnt. Und abends, wenn mir langweilig war ... habe ich dann die Bücher, die mir gefallen haben ... ähm ... also die ich mir tagsüber ausgeliehen hatte, na klar, so macht man das, nicht? ... habe ich die dann also ... mmh ... na gelesen. Einige waren ganz schön spannend. Besonders die mit Blagrad. Hast du von der schon gehört? Was die alles erlebt haben muss, einfach unglaublich. Und so eine Heldin, so schön und groß und stark, mit ihren langen schwarzen Haaren ..." Wohlruhnb unterbrach sich und starrte Blagrad an, die sie mit bis zu den Ohren hochgezogenen Mundwinkeln angrinste.
    "Dankeschön, eine 'Heldin' hat mich lange niemand mehr genannt."
    "Du bist ... ?" Wohlruhnb vergaß beinahe, ihren Mund wieder zu schließen. "Beim wildgewordenen Postboten. Das gibt es nicht. He, gib zu, dass du mich nur auf den Arm nimmst!" Blagrad sagte nichts und lächelte nur vielsagend.
    "Obwohl", fuhr Wohlruhnb fort, "das da eben auf dem Deck, also wie du mit der Ssobhrune ... na ... viel habe ich ja nicht mitbekommen, aber das hätte ihr verdammt ähnlich gesehen ... Bist du wirklich ...?"
    "Doch, ja, mein Name ist tatsächlich Blagrad und ich bin Luftschifferin. Ansonsten übertreiben die Romane, glaube ich, ein bisschen." Obwohl jede Form der Angeberei gegen den ungeschriebenen Ehrenkodex der Luftschiffer verstieß, genoss sie die Bewunderung der Kleinen gerade ein wenig.
    "Ich werde auch Luftschifferin", verkündete Wohlruhnb im Brustton tiefster Überzeugung. "Ich will auch Abenteuer bestehen, über den Ozean fliegen, Leben retten, auf großen Bällen mit vornehmen Leuten tanzen, gegen Ungeheuer kämpfen ... Na, über die Ungeheuer muss ich noch nachdenken. Aber den Rest will ich auf jeden Fall." Dazu muss man wissen: wenn Wohlruhnb sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte normalerweise keine Herde rasender Simyaks und kein Schwarm angriffslustiger Sorgenzähler sie davon abbringen. "Was muss ich tun?"
    "Das ist im Moment aber gerade sehr ungünstig." Blagrad schüttelte den Kopf, nicht zuletzt aus Verwunderung über das seltsame Geschöpf und seine plötzlichen Einfälle.
    "Wieso? Meinst du ich bin zu schwach? Ich kann dich ohne Probleme hochheben, glaube ich. Oder nicht schlau genug? Frag mich, was immer du willst aus deinem Leben! Also das, was in den Büchern steht. Oder soll ich dir zeigen, wie man einen Streuselkuchen stibitzt, ohne sich erwischen zu lassen?" Gut, das Letzte hätte sie lieber nicht sagen sollen. Das gehörte wohl nicht zu den Fähigkeiten, die bei der Aufnahmeprüfung für Luftschiffer abgefragt werden. Blagrad schaute auch etwas unschlüssig, aber eher so, als würde sie gerade an etwas ganz anderes denken.
    "Es kann sein, dass es uns Luftschiffer schon bald nicht mehr gibt." Sie war spürbar ernst geworden.
    "Hat es was mit den beiden komischen Postfiguren zu tun, die dich begleiten? Ich habe euch auf der Einstiegsplanke gesehen. Und du ... warst gefesselt, nicht?"
    "Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?"
    "Na klar doch", sagte Wohlruhnb, 'unter Kollegen', aber das Letzte dachte sie nur.
    Blagrad holte tief Luft.
    "Ich bin auf der Flucht, wir alle sind es in diesem Moment. Irgendetwas geht vor in Austropolis. Etwas, das gewaltige Kräfte entfaltet hat. Und wir sind zwischen die Mühlsteine geraten. Vielleicht ist das nur ein dummer Zufall oder besonderes Pech oder was weiß ich. Oder es steckt ein bestimmter Zweck dahinter, und wir sind wirklich das Ziel dieses hinterhältigen Angriffs, dann kann ich aber diesen Grund nicht erkennen. Ich meine, die Luftschiffer! Wir sind nur noch Romanhelden, nicht einmal zwei Hände voll, und ein paar Leser und Leute, die uns in guter Erinnerung haben. Wem zum Fruddel stehen wir denn im Weg? Wir dürfen ja nicht mal mehr fliegen." Es tat Blagrad gut, endlich mit jemandem über die aktuellen Geschehnisse reden zu können, auch wenn es nur ein vernachlässigtes Straßenkind war, die ganz bestimmt keinen Onkel in der Hauptstadt hatte. "Ich weiß nicht einmal, ob die anderen entwischen konnten oder wie es ihnen geht." Sie sank auf den Boden und sah auf einmal sehr müde aus. "Und mein Sohn, Frogdul, ist auch dabei. Er ist in deinem Alter. Nicht ganz so temperamentvoll, aber bestimmt genauso mutig wie du." Jetzt hatte die Luftschifferin Tränen in den Augen. Wohlruhnb kam herüber und strich ihr unbeholfen über die schimmernden schwarzen Haare. Blagrad nahm ihre Hand. Einige Minuten herrschte Stille in der Kabine und man hörte nur von Ferne das Rauschen des Windes und das regelmäßige Quietschen der Antriebsschraube.
    "Vielleicht ..." Blagrad stand auf, setzte sich vor Wohlruhnb auf die Holzliege und sah ihr in die wirklich warm leuchtenden roten Augen. "Vielleicht kannst du mir tatsächlich helfen."



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