Kolumnen April 2015 - April 2017
    Balduin Brachlands Hausapotheke
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    Balduin Brachlands Hausapotheke (2010) - Auszüge


    Das Haus. Teil Eins



    Ich wohne in einem sehr seltsamen, kleinen Haus am Stadtrand, das ich mir mit einem Zauberer und einer Schlangenfrau teile. Naja, ehrlicherweise muss man wohl zugeben, dass es sich bei dem Zauberer nicht wirklich um einen richtigen Zauberer handelt, nur gelegentlich. Und die Frau ist eigentlich gar keine Schlangenfrau, sondern eher so eine Art Wolfsmensch, oder doch zumindest so etwas wie ein Vampir. Na gut, ich gebe es zu, so genau weiß ich das eigentlich nicht. Fest steht aber, dass sie den halben Tag lang schläft und nachts viel unterwegs ist und auch ab und zu ein Opfer mit nach Hause bringt, von dem man hinterher nie wieder etwas hört. Der Zauberer, der sonst nur Frühstücksbrote oder Zuckerplätzchen zum Verschwinden bringt oder allenfalls volle Bierflaschen im Handumdrehen in leere verwandeln kann, behauptet dann jedesmal mit Verschwörermiene, er habe diese Leute weggehext. Dabei blinzelt er der Schlangenfrau so ungeschickt „verstohlen“ zu, dass ich gar nicht umhin kann, es zur Kenntnis zu nehmen und mir meinen eigenen Reim drauf zu machen. Aber sonst sind die beiden ganz in Ordnung. Obwohl er gar nicht so aussieht, muss der Zauberer schon sehr alt sein, steinalt genauer gesagt. Ständig erzählt er, er sei der erste gewesen, der über das Tor des Winterpalais’ gestiegen sei, er habe das Tor von innen entriegelt und erst dann seien die Menschenmassen in den Hof geströmt und hätten ihre historische Aufgabe erfüllt. Oder die andere Geschichte, wie er murrend und fäusteschüttelnd vor der Bastille gestanden habe, gemeinsam mit anderen zerlumpten Gestalten, und erst auf seine in strengem Ton vorgetragene Forderung habe der Festungskommandant die Türen öffnen lassen. Gern berichtet der Zauberer auch von seiner Zeit als Papst in Avignon oder wie er damals in Palästina diesen verrückten Zimmermann getroffen hatte. Ich glaube sogar, dass er irgendwann schon einmal auf dem Mond war, obwohl er das bis jetzt immer verschwiegen hat. Aber vielleicht ist er auch gar nicht wirklich so sehr alt, zumal er, wenn ich es recht bedenke, auf der Schule, die wir gemeinsam besucht haben, zwei Klassen unter mir war. Naja. Das Haus, in dem wir drei wohnen, sieht von der Straße her gesehen winzig klein aus, nicht viel größer als eine Hundehütte, mit einem winzigen roten Ziegeldach und einer noch winzigeren Holztür, die so winzig ist, dass man nicht einmal genau sagen kann, welche Farbe sie eigentlich hat. Fenster hat das Haus, jedenfalls von außen gesehen, glaube ich nicht. Von innen aber, wenn man es erst einmal geschafft hat, durch die winzige Tür hineinzukriechen, ist das Haus riesengroß, so groß, dass ich nicht sicher weiß, wie viele Treppen und Säle, Kammern und Zimmer es eigentlich gibt. Fast jeden Tag verlaufe ich mich in den endlosen Fluren und gelange immer wieder in Räume, die ich, soweit ich mich erinnere, niemals zuvor betreten habe. Naja, vielleicht habe ich aber auch nur ein extrem schlechtes Gedächtnis. Mindestens in einem der unzähligen Badezimmer, da bin ich mir sicher, steht eine goldene Wanne auf fein gearbeiteten gusseisernen Löwentatzen, in der ein riesiger, bestimmt ein oder zwei Meter langer Goldfisch hin und her schwimmt, der sprechen kann. Das heißt, mit mir spricht er ja nicht, aber nach dem Getuschel und Geflüster zu urteilen, das man jedes Mal weit vernehmlich durchs Haus schallen hört, wenn der Zauberer oder die Schlangenfrau bei ihm zu Gast sind, hat er mit denen eine ganze Menge zu bereden. Was da so besprochen wird, weiß ich leider nicht genau, denn so laut ist es draußen auch wieder nicht zu hören, eigentlich nur als undeutliches Wispern und Raunen, fast eine Art Wind oder Zugluft, und auch nur, wenn man sein Ohr sehr fest, so fest, dass einem davon noch tagelang ein rot unterlaufener Abdruck der Holzmaserung erhalten bleibt, gegen die Tür drückt, an einer Stelle, wo sie etwas dünner ist, und auch nur, wenn auf der Straße vor dem Haus gerade kein Auto vorbeifährt. Nachts, wenn Whisky und Kerosin durch die Wasserleitungen glucksen, die Schlangenfrau in irgendeiner Tiergestalt auf der Suche nach frischem Blut in den Kanälen unter der Stadt umherstreift und der Zauberer mit wehenden Rockschößen und höhnisch lachend durch die Fußgängerzonen fliegt, zumindest glaube ich, dass sie das tun, ganz sicher kann man ja nie sein, dann schleiche ich mich die große Freitreppe in der Eingangshalle hoch, nehme dann den Dienstbotenaufgang bis in die vierte Etage, weiter durch die geheime Tapetentür ganz am hintersten Ende der Bibliothek, die Wendeltreppe rauf, oben durchs Fenster, die Feuertreppe bis an die Dachkante, dann wieder innerhalb des Glockenturms die wackligen Holzleitern bis zur obersten Dachluke, über das Sims und am Blitzableiter empor bis ins staubige und mit altertümlichem Gerümpel vollgestellte einhundertundsechsundfünfzigste Stockwerk. Vielleicht ist es auch nur das einhundertvierundfünfzigste oder auch nur das zweite oder dritte, im Zählen war ich schon immer sehr schlecht, aber jedenfalls bis ganz nach oben. Dort wohnt ein riesengroßer blauer Elefant, keine Ahnung, wie der da hochgekommen ist, und sieht sich alberne Trickfilme an, in denen ständig krakelige bunte Menschen mit tonnenförmigen Körpern, auf denen halslose, eierförmige Köpfe lose montiert sind, über zufällig herumliegende mannsgroße Tortenstücke stolpern, Leitern hinunter- oder hinaufpurzeln, in offene Abwasserkanäle stürzen oder zwischen heranrasenden Planierraupen zu zähflüssigem grünviolettem Mus zerquetscht werden. Dabei kichert der Elefant die ganze Zeit glucksend in sich hinein, wie ein pubertierendes Mädchen auf Klassenfahrt und nagt an daumennagelgroßen Zimtplätzchen, die er mit seinem blauen Rüssel aus einer knisternden Plastiktüte angelt, ohne dabei auch nur einen winzigen Moment die Augen von dem albernen Trickfilm abzuwenden. Na gut, ich übertreibe ein wenig. Eigentlich ist es dort oben viel zu dunkel, und dass der Elefant blau ist, habe ich mir nur ausgedacht. Er könnte aber blau sein oder doch wenigstens dunkelgrün. Ja, ich gebe auch gerne zu, dass es mir selbst, wenn ich nur einige Zeit darüber nachdenke, nicht so hundertprozentig wahrscheinlich vorkommt, dass es sich bei dem, der da oben wohnt, um einen richtigen Elefanten handelt, jedenfalls nicht so einen, wie man ihn aus dem Wanderzirkus kennt, der in jedem Frühjahr in unserer Stadt gastiert. Vielleicht aber könnte er ein Rhinozeros sein, von dessen Horn ein besonders langer Kniestrumpf herabhängt, oder eine sehr fette Giraffe, deren Hals an einer seltenen Muskelschwäche leidet. Sicher bin ich mir dagegen bei den Zimtplätzchen, die, wer immer nun da oben, oder eben auch nicht so sehr weit oben, wohnt, aus Diätgründen knuspert, behauptet er jedenfalls, aber möglicherweise ist das auch geschwindelt. Trickfilme! Trickfilme, und zwar außerordentlich alberne, wenigstens erschienen sie mir in besonderem Maße witzlos und von ausgesucht einfacher Dramaturgie, also eben sehr sehr albern, Trickfilme waren es bestimmt. Oder, das ist immerhin, soweit ich weiß, technisch möglich, man hat unglaublich geschickte und auch unglaublich kleinwüchsige und hässliche Stuntmen oder, natürlich wäre das denkbar, Leute, die gerne auf ihre Nasen fallen und in offene Kanalschächte stürzen oder mit Vergnügen zwischen Bulldozern zu zähflüssigem grünviolettem Mus zerquetscht werden, hergenommen und sie diese Szenen spielen lassen und das Ganze hernach mit einem grobpixligen digitalen Programm überarbeitet, so dass es nur aussah wie ein Trickfilm. Gut, gut. Grünviolett ist jetzt von mir, weil es ja ein Schwarzweißfernseher war, aber es wäre immerhin nicht gänzlich undenkbar. Die Nase des Clowns jedenfalls, der in unserem Kühlschrank wohnt, ist definitiv grünviolett, obwohl so ein Clown ja natürlich, also so wie man das gewohnt ist, eine rote Nase haben müsste. Aber dieser Clown hat ja auch kein weißgeschminktes Gesicht oder wenigstens buntkarierte Hosen, die drei Nummern zu groß sind. Er ist auch kein bisschen lustig. Schon komisch für so’n Clown. Dafür versucht er einem jedesmal, wenn man die Butter aus dem Kühlschrank nimmt, einen Vortrag über ein angeblich verschollenes Werk von Adorno zu halten, das er in mühevoller Kleinarbeit in den vergangenen vierzig Jahren, solange lebt er wohl schon in diesem Kühlschrank, gedanklich rekonstruiert habe. Der Titel lautet irgendwie „ Über das Musikalische in der Architektur des 19. Jahrhunderts und seine Auswirkungen auf ...“. Auf was, ist mir leider bis jetzt nicht bekannt geworden, denn solange dauert es ja auch wieder nicht, die Butter aus dem Kühlschrank zu nehmen. Und außer der Butter bewahren wir, aufgrund schlechter Erfahrungen, auch nichts mehr im Kühlschrank auf. Butter mag der Clown nicht. Alle anderen Lebensmittel lagern wir unter einem losen Dielenbrett unter dem Esstisch, an das man aber anklopfen muss, sonst verärgert man die Trapezkünstlerfamilie, die sich dort eingenistet hat. Die halten von Berufs wegen eine sehr strenge Diät und es passiert höchstens einmal, dass einige Brokkolistengel ein bisschen angenagt sind. So groß, wie es mir an manchen Tagen vorkommt, kann das Haus also gar nicht sein, ganz im Gegenteil will es mir scheinen, als litten wir unter extremem Platzmangel. Die Keller sind voll mit Löwen und Leoparden, in den Kleiderschränken leben Tänzerinnen, die dort in ihren bunten Glitterkostümen direkt an den Kleiderbügeln hängen, auf dem Kronleuchter über dem Küchentisch wohnt eine bestimmt zehnköpfige Affenfamilie, in den Regalen und Kommoden sitzen die Orchestermusiker mit ihren Instrumenten, und auf den wenigen Betten und Sofas liegen samt und sonders Pferde und Kamele. Schlafen kann man nur im Stehen in der Duschkabine, wobei einem aller paar Minuten die Bälle der Jongleure auf den Kopf knallen, die ja ständig üben müssen und keinen anderen freien Raum finden können. So betrachtet, freue ich mich richtiggehend auf den ersten warmen Frühlingstag, wenn wir, wie in jedem Jahr, das große Zelt hinter der Wandverkleidung vorziehen, unser Haus zusammenfalten und in einen kleinen Karton legen und ich mir wieder den schwarzen Zylinder aufsetzen darf.


    Balduin Brachlands Hausapotheke


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