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Letzte Worte

von Karl Vitalij Karamasow
23. Oktober 2016

"Der größte Haufe hört beim hellen Tage mit Vergnügen über die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit Grausen davon erzählen."
(G.E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 1767/68)


Wenn in den selig aufgeräumten Tagen der Wirtschaftswunderära, als Männer noch kettenrauchende Cowboys sein durften und Frauen sich unentwegt allein darum sorgten, ihr selbstgekochter Kaffee möge dem Möchtegernkuhhirten munden, ging, wer an Visionen laborierte, entweder zur Splittergruppe der örtlichen Jungrevolutionäre oder wandte sich, dem Bonmot eines desillusionierten Kettenrauchers folgend, an einen auf Oberstübchenangelegenheiten spezialisierten Medizinmann. Heute, mehrere Aufklärungsschritte später, was die Schädlichkeit verbrannten Tabaks und die geistige Zurechnungsfähigkeit der weiblichen Bevölkerung anbelangt, inklusive grundstürzender Demokratisierung und Liberalisierung öffentlicher Meinungsäußerung, sucht man sich Gleichgesinnte, die dieselben Geister sehen, versammelt sich unter Phantasieflaggen auf Straßen und Plätzen, handelt mit Aluhüten, stellt sich Phantasiepässe aus, bestärkt sich gegenseitig im obskurantistischen Glauben und erwartet den Beginn des Großen Kreuzzuges gegen Ketzer, Außerirdische, die Europäische Kommission und Gedankenstrahlen.
Je nach Geschmack ein weiterer Beleg des dialektischen (oder auch: vollkommen zufälligen) Umschlagens einer positiven historischen Tendenz in ihr gerades Gegenteil (von der Entzauberung zum Aberglauben) oder einfach der erneute Beweis für die Einfalt des Menschen, der jeder durchs Dorf rennenden Sau hinterhereilt, wenn sie nur laut genug quiekt.
Eine postfaktische paneuropäische Sekte gegen Europa, aber auch gegen alle anderen. Ein nationalistischer Internationalismus gegen das Morgenland, das Abendland, jegliche (verräterischen, ferngesteuerten) Regierungen, illegalen Steuern, verlogene Presse, unterdrückerischen Verkehrsregeln, das schlechte Wetter, das die Oberhexe im Kanzleramt zusammenbraut ... Die Wahrheit steht auf einem Bus im Hintergrund!
Besorgte Bürger, Wutbürger, Schildbürger, das Volk war schon immer komisch. Solange sie noch keine Uniformen tragen, besteht immerhin Hoffnung, dass sie sich irgendwann einreihen in den alltäglichen Narrenzug der Trekkies, Schützen, Popstars, Fußballfans und Katholiken. Die möchte man ja auch nicht immer gleich als Nachbarn ...
Auf dem Wühltisch der Neuen Welt liegen derweil im Sommerschlussverkauf nur noch zwei labbrige alte Pullis, die man mit spitzen Fingern hin- und herwendet, ohne sich recht entscheiden zu können, vor welchem es einen mehr graust. Dass das Weltende hässlich werden könnte, haben wir ja geahnt, aber so?



Klassiker des Tages

"Nur schwachen Trost, wenn dich ein Unheil trifft, / Gibt philosophische Betrachtung. / Für Weltunbill das einz'ge Gegengift / Ist Weltverachtung."
(Paul Heyse, Spruchbüchlein, 1885)
 
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